Jesaja 1
Isaiah 1 Kingcomments Bibelstudien

Einleitung

Dieser Kommentar des Buches Jesaja ist ein Kommentar von zwei Autoren geworden. Dies ist allerdings breiter zu interpretieren. Wir haben dankbar das genutzt, was der Herr anderen Auslegern vom Inhalt dieses Bibelbuches bereits gezeigt hat. Wir überlassen es dem Leser, anhand von Gottes Wort zu prüfen, ob das, was in diesem Kommentar steht, tatsächlich Gottes Absicht entspricht (Apg 17,11).

In diesen Tagen, in denen die Gemeinde von großer Schwachheit und verschiedenen Nöten und Problemen geprägt ist, brauchen wir dringend das prophetische Wort. Es ist ein Beweis der Gnade Gottes, dass Er Propheten gegeben hat. Er sendet Propheten, wenn das Volk von Ihm abweicht. Ihre Botschaft hat zwei Seiten: Gericht über diejenigen, die in der Ablehnung von seinem Wort verharren, und Segen für diejenigen, die den Ruf des Propheten in Gottes Namen beherzigen.

Jeder, der das Buch Jesaja aufmerksam liest, wird von der Aktualität und der Kraft der Botschaft für uns beeindruckt sein. Es ist notwendiger denn je, sich gegenseitig zu motivieren, sich jeden Tag (Apg 17,11b) Zeit zu nehmen, um zu hören, was der Geist uns persönlich durch das jeweilige Wort zu sagen hat.

Das, was Gott durch seine Knechte gesagt hat, soll auch in der Familie ein regelmäßiges Gesprächsthema sein (5Mo 6,6-9). Dieser Kommentar kann dabei sicher ein gutes Hilfsmittel sein. Zum Beispiel kann nach dem Essen ein Teil des Buches Jesaja gelesen werden, dann diese Ausführungen zu diesem Textabschnitt und danach kann eine gemeinsame Aussprache erfolgen. Wenn wir das mit dem Gebet zum Herrn tun, dass unser „Herz erleuchtet wird“ (Eph 1,18), wird der Segen mit der ganzen Familie geteilt (vgl. Heb 6,7).

Wenn ein Teil von Gottes Wort klar(er) geworden ist, danke dann dem Herrn für das, was Er gezeigt hat. Gottes Wort kann auch deutlich machen, dass wir etwas als Sünde bekennen müssen. Indem wir danken und bekennen, wird das Gelesene zu unserem geistlichen Eigentum, mit dem wir auch anderen dienen können.

Wenn wir diesen schönen Teil der Schatzkammer des Wortes Gottes im Gebet betreten, werden wir mit Dank daraus zurückkommen, weil wir dem Herrn Jesus in diesem Buch begegnet sind. Als Jesaja gerufen wurde, sah er seine Herrlichkeit (Jes 6,1-3; Joh 12,36-41). In diesem Buch ist die Herrlichkeit des Herrn Jesus für uns in vielen Farben dargestellt. Je mehr wir davon sehen, desto mehr werden unsere Herzen mit Dankbarkeit und Anbetung erfüllt.

Ger de Koning und Tony Jonathan
Middelburg / Arnheim, Mai 2014, neue Version Februar 2021

Jesaja

Was bedeutet der Name „Jesaja“ für uns, wenn wir diesen Namen lesen? Leider oft nicht mehr als ein Name. Aber wenn wir die Bedeutung dieses Namens kennen, wird das Hören oder Lesen dieses Namens unser Herz mit großer Freude erbeben lassen, denn sein Name bedeutet „die Rettung des HERRN“. Der Name „Jesaja“ repräsentiert in einem Wort den Inhalt des ganzen Buches.

Das Buch Jesaja ist das größte und inhaltlich umfangreichste prophetische Buch der Bibel. Das prophetische Wort ist in vielen Aspekten dieses Buches präsent. Jesaja spricht über die Erfüllung von Gottes Ratschluss bezüglich seines irdischen Volkes. Dieser Ratschluss bedeutet, dass Gott seine beabsichtigte Rettung über Israel und durch Israel auch über die Heiden bringen wird (Röm 15,9-12). Diese Erfüllung wird sich im Tausendjährigen Friedensreich vollziehen. In mehreren Teilen des Buches sehen wir bereits eine Art Vorerfüllung davon in unserer Zeit. Gottes Herrlichkeit wird zu allen Zeiten in allen seinen Wegen mit den Menschen sichtbar, sowohl in der Gnade als auch im Gericht.

Zentrales Thema

Jesaja wird „der Evangelist des Alten Testaments“ genannt. Die gute Botschaft – das ist es, was das Wort „Evangelium“ bedeutet –, die Segen und Trost enthält (Jes 40,1), geht sowohl an Israel als auch an die Nationen (Jes 49,6). Diese Botschaft steht in direktem Zusammenhang mit dem großen und zentralen Thema des prophetischen Wortes: dem Messias, dem Herrn Jesus. Sein erstes Kommen als der leidende Knecht des HERRN und auch sein zweites Kommen als König über alle Könige werden ausführlich beleuchtet. Jesaja spricht über die Geburt des Herrn Jesus, über seine Nahrung, sein Leben, seinen Tod, seine Auferstehung, seine Wiederkunft und sein Friedensreich. Wir werden alles in diesem Bibelbuch finden.

Es gibt kein Buch der Bibel, in dem wir so viel über die Leiden, die Verherrlichung und das Reich des Herrn Jesus erfahren wie in diesem von Jesaja. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass im Neuen Testament mehr aus diesem Buch zitiert wird als aus jedem anderen Buch des Alten Testaments. Das Neue Testament enthält etwa fünfundachtzig Zitate aus Jesaja.

Prophezeiung

Es ist gut, noch ein Wort zur Prophetie im Allgemeinen zu sagen. Prophetie ist mit Musik verglichen worden, die für das Gehör des Glaubens immer wohlklingend ist (vgl. 1Chr 25,1a; 3). Die Bedeutung der Prophetie wird besonders in Zeiten der Prüfung und Trübsal, des Kummers und des Verfalls des Volkes Gottes geschätzt. Propheten werden von Gott zu seinem Volk in Zeiten des Verfalls gesandt. Propheten sind der Mund Gottes bzw. die Sprecher Gottes (vgl. 2Mo 7,1). Sie rufen ein Volk, das sich von Ihm entfernt hat, auf, zu Ihm zurückzukehren, damit Er es wieder segnen kann. Wenn sie nicht hören, muss das Gericht kommen. Auf Warnungen folgt das Gericht. Das Gericht gilt immer für die gottlose Masse des Volkes.

Aber Gericht hat nicht das letzte Wort. Denn die Propheten haben immer auch einen gottesfürchtigen Überrest im Blick, „einen kleinen Überrest“ (Jes 1,9). Manchmal sind die Propheten selbst ein Typus dieses Überrestes, wie Jesaja (Jes 8,18). Das Merkmal eines Überrestes ist, dass er als Gegenstand der Gnade Gottes inmitten des Verfalls für Gott und seine Rechte stehen bleibt.

Diejenigen, die den Überrest bilden, erhalten vom HERRN auch eine besondere Ankündigung über die Zukunft, die Endzeit (Jes 46,10). Die Endzeit ist das Kommen des Herrn Jesus und die Aufrichtung seines Reiches. Viele Prophezeiungen haben sich noch nicht vollständig erfüllt. Die volle Erfüllung kommt, wenn der Herr Jesus das Friedensreich aufrichtet und als Messias regiert. Einige Prophezeiungen haben sich jedoch bereits teilweise und vorläufig erfüllt.

Der wahre Wert der Prophezeiung liegt darin, dass sie sich mit einer Person und nicht primär mit Ereignissen beschäftigt. Es geht um Christus – siehe unter „Zentrales Thema“. Prophetie ist nicht nur die Vorhersage zukünftiger Ereignisse, sondern auch die Weitergabe von Gottes Gedanken und deren Anwendung auf Herz und Gewissen (1Kor 14,3).

Diese „Arbeitsmethode“ gilt für die schreibenden Propheten, also die Propheten, deren Schriften wir in der Bibel haben. Nicht-schreibende Propheten, zum Beispiel Elia und Elisa, prophezeien im Hinblick auf die aktuelle Situation des Volkes Gottes. Sie prophezeien auch über zukünftige Dinge, aber dann sprechen sie hauptsächlich über die unmittelbare Zukunft, über Dinge, die sie oft selbst erleben. In ihrem Leben und ihrer Geschichte sehen wir aber sehr wohl die geistlichen Merkmale der Endzeit, die Merkmale des Verfalls.

Wenn wir die Bücher der Propheten studieren, können wir drei Ansätze unterscheiden:
An erster Stelle hat Prophetie eine direkte, erste Bedeutung für die Situation in der Zeit, in der der Prophet auftritt.
An zweiter Stelle sehen wir in den Büchern der Propheten eine prophetische Perspektive. Dann sehen wir in den Ereignissen der Tage des Propheten eine Vorerfüllung der Ereignisse, die am Ende der Zeit stattfinden werden.
Drittens ist jedes Buch der Propheten, einschließlich des Buches Jesaja, ein typologisches Buch. „Typologisch“ bedeutet, dass Ereignisse oder Personen Typen oder Bilder sind, aus denen wir geistliche Lektionen lernen können. Die Schrift selbst sagt, dass die Geschichte des Volkes Gottes zu diesem Zweck geschrieben ist, und fordert uns auf, die Schrift auch in diesem Sinn zu lesen (1Kor 10,6; 11; Röm 15,4; Gal 4,21-31). Der damalige geistliche Zustand des Volkes Gottes spricht dann zu uns hinsichtlich des geistlichen Zustands des Volkes Gottes in der heutigen Zeit.

Es ist wichtig zu beachten, dass diese Prophezeiungen eine buchstäbliche Erfüllung für Israel, Gottes irdisches Volk, haben und nicht für die Gemeinde, Gottes himmlisches Volk. Die buchstäbliche Erfüllung für Israel sollte die Gemeinde jedoch nicht davon abhalten, geistliche Lektionen aus den Prophezeiungen zu ziehen.

Person des Jesaja

Der Name „Jesaja“ ist die abgekürzte Form des hebräischen Yeshayahu und bedeutet „Rettung des HERRN“, ein Name, der ganz im Einklang mit der Botschaft seines Buches steht.

Jesaja ist verheiratet. Der Name seiner Frau wird nicht erwähnt, aber was sie tut, schon. Sie wird „die Prophetin“ genannt (Jes 8,3). Sie haben zwei Söhne. Die Namen dieser beiden Söhne werden auch erwähnt. Die Namen haben eine prophetische Bedeutung. Der jüngste heißt: „Es eilt der Raub, bald kommt die Beute“ (Jes 8,3). Der älteste wird „Schear-Jaschub“ genannt (Jes 7,3), was bedeutet: „Der Überrest wird umkehren.“

Jesaja lebt in einer Zeit voller Gefahren, in der das Weiterbestehen von Israel und Juda auf dem Spiel steht. Er wird am Ende der Regierungszeit des Königs Ussija, also im Jahr 740 v. Chr., vom HERRN zum Propheten berufen (Jes 6,1). Er ist dann noch relativ jung. Die Zeit seines Dienstes umfasst 40 bis 50 Jahre. Das Gebiet seines Dienstes und Lebens ist Jerusalem und seine Umgebung.

Bei seiner Berufung sieht er den HERRN der Heerscharen (Jes 6,1-3). Das prägt sein Leben und seinen Dienst, genauso wie Paulus’ Dienst und Leben von seiner Begegnung mit dem verherrlichten Herrn auf dem Weg nach Damaskus geprägt ist (Apg 9,1-9). Die Anwendung für uns ist, dass auch dem Dienst, den wir für den Herrn tun dürfen, eine persönliche Begegnung mit Ihm vorausgehen muss.

Nach der Überlieferung wird Jesaja von dem jugendlichen König Manasse grausam getötet, nachdem er im Jahr 686 v. Chr. König geworden ist. Manasse ist damals zwölf Jahre alt. Nach der Überlieferung steckte Manasse ihn in einen hohlen Baumstamm und zersägte ihn (vgl. Heb 11,37). Es ist durchaus möglich und nicht verwunderlich, dass Satan wie ein brüllender Löwe gegen Jesaja, der ein so mächtiger Zeuge Gottes ist, wütete und ihn zersägen ließ.

Satan hat nicht nur – der Überlieferung nach – die Person Jesaja zersägen lassen. Er hat auch versucht, und versucht es immer noch, sein Buch durch die modernen Theologen zu zersägen. Denn sie behaupten, dass nicht ein Jesaja, sondern drei Personen mit dem Namen Jesaja über einen Zeitraum von einigen hundert Jahren das Buch geschrieben haben. Das zeigt, dass Satan die Bedeutung des Buches Jesaja gut verstanden hat, denn sonst hätte er sich nicht so viel Mühe gegeben, Jesaja und sein Buch so heftig anzugreifen.

Die Entdeckung der Jesaja-Handschriften 1948 in der Nähe des Toten Meeres, der sogenannten Jesaja-Rollen vom Toten Meer, die sich als tausend Jahre älter erweisen als die damals bekannten Handschriften des Masoretischen Textes, bestätigen die äußerst genaue und zuverlässige Überlieferung des biblischen Textes. Diese Handschriften aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. weisen nicht die Merkmale mehrerer Autoren auf. Im Gegenteil: Dort, wo liberale Theologen meinen, es gäbe einen Übergang von einem Autor zum anderen, setzt sich der Text einfach fort.

Jesaja ist einer der größten Schriftsteller, die je gelebt haben. Sein Schreibstil und seine literarischen Qualitäten sind nach Meinung einiger Experten tiefer und brillanter als beispielsweise die von Shakespeare.

Politischer Hintergrund

Während des Krieges im Jahr 734 v. Chr. zwischen der Koalition von Syrien und Israel, dem Zehnstämmereich, auf der einen Seite und Juda auf der anderen Seite, hatte König Ahas von Juda große Angst (Jes 7,1; 2). Jesaja versichert ihm, dass die Feinde nicht in der Lage sein werden, Juda zu überwinden. Um in den Genuss dieser Verheißung zu kommen, muss Ahas sein Vertrauen auf den HERRN setzen und nicht auf ein Bündnis mit Assyrien. Ahas vertraut aber nicht auf den HERRN, sondern auf Assyrien. Deshalb richtet Gott Juda durch Assyrien. Ganz Juda, außer Jerusalem, wird zerstört. Im letzten Moment erlöst Gott in seiner Gnade Jerusalem, indem er das gesamte Heer Assyriens in einer Nacht vernichtet (Jes 37,36).

Einige charakteristische Ausdrücke

Charakteristisch für das Buch Jesaja ist u. a. der Ausdruck Kadosh Yisrael, „der Heilige Israels“, der dreimal heilige Gott, der sich Jesaja offenbart hat (Jes 6,1-3). Dieser Ausdruck kommt 25-mal in diesem Buch vor, 12-mal im ersten Teil (Jesaja 1–39*) und 13-mal im zweiten Teil (Jesaja 40–66**). Dies unterstreicht die Einheit dieses Buches. Der gleiche Ausdruck kommt auch dreimal in den Psalmen (Ps 71,22; Ps 78,41; Ps 89,19), zweimal in Jeremia (Jer 50,29; Jer 51,5) und einmal im zweiten Buch der Könige (2Kön 19,22) vor.

* Jes 1,4; Jes 5,19; 24; Jes 10,20; Jes 12,6; Jes 17,7; Jes 29,19; Jes 30,11; 12; 15; Jes 31,1; Jes 37,23.
** Jes 41,14; 16; 20; Jes 43,3; 14; Jes 45,11; Jes 47,4; Jes 48,17; Jes 49,7; Jes 54,5; Jes 55,5; Jes 60,9; 14.

Ein weiteres Schlüsselwort in diesem Buch ist das Wort jesha, das „Rettung“ (oder: „Heil“) bedeutet. Dieses Wort kommt auch 25-mal in diesem Buch vor, 8-mal im ersten Teil und 17-mal im zweiten Teil. Die Tatsache, dass dieses Wort so oft vorkommt, wird dazu beigetragen haben, dass Jesaja der „Evangelist des Alten Testaments“ genannt wird.

Ein weiterer für Jesaja charakteristischer Ausdruck ist Ebed Jahwe, was „Knecht des HERRN“ bedeutet. Im Plural ist er ein Hinweis auf das Volk Israel. In der Einzahl ist dieser Ausdruck jedoch oft nicht ein Hinweis auf Israel, sondern auf den verheißenen Messias. Besonders deutlich wird dies in den vier Liedern, die wir in diesem Buch über den Knecht des HERRN haben (Jes 42,1-7; Jes 49,1-7; Jes 50,1-11; Jes 52,13-15; Jes 53,1-12).

Segen für die Nationen

Wenn der HERR die Rettung aus Gnade schenkt, kann Er diese Rettung nicht auf Israel beschränken. Die Rettung richtet sich an die ganze Welt: „Ja, er spricht: Es ist zu gering, dass du mein Knecht seist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen. Ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um meine Rettung zu sein bis an das Ende der Erde“ (Jes 49,6).

Es sollte uns nicht überraschen, dass der Kämmerer aus Äthiopien von allen Büchern des Alten Testaments das Buch Jesaja auswählt, um es aus Jerusalem mitzunehmen. In diesem Buch begegnet er Jesus, als er auf der Rückreise in sein Land nach seinem Besuch in Jerusalem darin liest (Apg 8,27; 28; 35). Jesaja hat ihm das Evangelium verkündet, das er nach der Erklärung durch Philippus annimmt. Er ist der Erste unter den Völkern, von dem die Schrift sagt, dass er Anteil an der Errettung bekommen hat.

Aufteilung des Buches

Das Buch Jesaja kann auf mehrere Arten unterteilt werden. Die große Einteilung ist die in zwei Hauptteile, mit einem kleinen Mittelteil dazwischen:

1. Hauptteil 1: Prophetischer Teil (Jesaja 1–35)

In diesem Teil geht es um Gottes Gericht über Israel und die Nationen. Darin wird Assyrien von Gott als Instrument benutzt, als Zuchtrute in seiner Hand. Dem jüngsten Sohn des Jesaja wird ein Name gegeben, dessen Bedeutung auf den Inhalt dieses Teils hinweist: „Es eilt der Raub, bald kommt die Beute“ (Jes 8,3).

2. Mittlerer Teil: Historischer Teil (Jesaja 36–39).

Hier sehen wir die Geschichte von Hiskia als einen Typus und eine Illustration der Geschichte des treuen Überrestes Israels. Dieser Überrest wird versucht und geprüft und kommt in Bedrängnis sowohl durch seine eigenen Sünden als auch durch Feinde von außen. Der HERR gibt Rettung durch Heilung und Befreiung.

3. Teil 2: messianischer Teil (Jesaja 40–66).

Dieser Teil ist ebenfalls ein prophetischer Teil. Es geht um die Rettung des HERRN, die trotz des Versagens Israels über das Volk kommen wird. Gott wird schließlich in der Lage sein, das Volk zu segnen, dank des Kommens des Knechtes des HERRN, des Christus, des Messias. Beide Namen bedeuten das Gleiche. Sowohl Christus (griechisch) als auch Messias (hebräisch) bedeuten „Gesalbter“.

Der älteste Sohn Jesajas erhält einen Namen mit einer Bedeutung, die auf den Inhalt dieses Teils hinweist: „Schear-Jaschub“ (Jes 7,3). Dieser Name bedeutet, wie schon bemerkt, „der Überrest wird umkehren“. Diesem Überrest wird Gott alle seine verheißenen Segnungen geben.

Das Buch Jesaja ist sozusagen wie die Bibel im Kleinformat. Der erste Teil, einschließlich des Mittelteils, hat so viele Kapitel, wie das Alte Testament an Bibelbüchern hat, nämlich 39. In diesem Teil liegt der Schwerpunkt auf den Gerichten Gottes über sein Volk. Diese Gerichte müssen kommen, weil Gott der Heilige Israels ist und sein Volk unheilig geworden ist. Im Alten Testament steht die Heiligkeit Gottes im Vordergrund.

Der zweite Teil hat so viele Kapitel, wie das Neue Testament an Bibelbücher hat, nämlich 27. Dieser Teil betont, dass die Errettung das Ergebnis der Gnade Gottes für Israel ist. Im Neuen Testament steht die Gnade Gottes im Vordergrund.

Die Charaktere des ersten und zweiten Hauptteils sind sehr unterschiedlich. Das hängt mit den Feinden des Volkes Gottes zusammen, die in jedem dieser Teile eine Hauptrolle spielen. Im ersten Teil ist Assyrien der Feind, im zweiten Teil ist es Babel. Im mittleren Teil wird der Wechsel von einem Feind zum anderen besprochen. Aber derjenige, der alles kontrolliert und regiert, ist der Gott Israels.

Es ist auch möglich, das Buch Jesaja in sieben Teile zu unterteilen:
1. Prophezeiungen über Juda (Jesaja 1–12)
2. Aussprüche Gottes über die Nationen (Jesaja 13–27).
3. Ein sechsfaches Wehe über die Torheit des Unglaubens (Jesaja 28–35).
Jeder dieser drei Teile endet mit einem Lobgesang.

4. Geschichte Hiskias (Jesaja 36–39).

In den nächsten drei Teilen haben wir dreimal neun Kapitel über die Rettung Gottes. Jeder dieser drei Teile endet mit dem Schicksal der Gottlosen.
5. Gott gegen Götzendienst und Babel (Jesaja 40–47).
6. Christus, der Knecht des HERRN, seine Verherrlichung nach seinen Leiden wegen seiner Verwerfung durch das Volk (Jesaja 48–57).
7. Der treue Überrest Israels, durch den Geist verbunden mit dem Knecht des HERRN (Jesaja 58–66).

Übersicht Hauptteil 1.1 – Jesaja 1–12

Aussagen über Juda und Jerusalem

Der erste Teil des ersten Hauptteils (Jesaja 1–35) umfasst Jesaja 1–12 und kann wie folgt unterteilt werden:
1. Anklage des HERRN gegen sein Volk (Jesaja 1,1–31)
2. Gottes Haus und Gottes Herrschaft (Jesaja 2,1–5)
3. Der Tag des HERRN (Jesaja 2,6–22)
4. Gottes Gericht über Jerusalem und Juda (Jesaja 3,1–4,1)
5. Die herrliche Zukunft Zions (Jesaja 4,2–6)
6. Das Gleichnis vom Weinberg (Jesaja 5,1–7)
7. Die Verurteilung der Sünden Judas (Jesaja 5,8–30)
8. Die Vision und Berufung durch den Heiligen (Jesaja 6,1–13)
9. Das Zeichen von „Schear-Jaschub“ (Jesaja 7,1–9)
10. Das Zeichen des Immanuel (Jesaja 7,10–25)
11. Das Zeichen von „Es eilt der Raub, bald kommt die Beute“ (Jesaja 8,1–10)
12. Jesaja und seine Kinder als Zeichen und Wunder (Jesaja 8,11–18)
13. Das Licht und das Kind (Jesaja 8,19–9,7)
14. Das Gericht über Ephraim (Jesaja 9,8–10,4)
15. Das Gericht über Assyrien (Jesaja 10,5–19)
16. Die Befreiung des Überrestes (Jesaja 10,20–34)
17. Der davidische König und seine wohltätige Regierung (Jesaja 11,1–9)
18. Das Volk und die Nationen (Jesaja 11,10–16)
19. Ein freudiger Lobgesang (Jesaja 12,1–6)


Einleitung

Dieses Kapitel ist die Einleitung zum ganzen Buch. Es beschreibt die Anklageschrift des HERRN gegen Juda. Diese Anklageschrift macht die Notwendigkeit des Schreibens des Buches und die Notwendigkeit des Eingreifens Gottes wegen des geistlichen Zustandes seines Volkes deutlich. Dieses Eingreifen ist anders, höher, als wir es erwarten würden. Auch der Ruf zur Umkehr ertönt.

Die Anklageschrift zeigt uns den Zustand des Volkes aus der Sicht Gottes. In dieser Anklage sehen wir, dass Gott ihr gerechter Richter ist, der sie notwendigerweise richten muss. Der Grund dafür ist, dass sie den Bund mit Ihm gebrochen haben – der mit Himmel und Erde als Zeugen geschlossen ist (Jes 1,2). Die Anklageschrift zeigt uns aber auch, dass Gott immer noch ihr großer Erlöser und Retter sein will. Dieses Buch zeigt uns somit die Notwendigkeit des Gerichts und zudem, wie der HERR sein Volk inmitten des Gerichts bewahrt.

Das Buch zeigt uns darüber hinaus, was Prophetie ist. Prophetie ist das Reden im Namen Gottes, ein Reden, durch das das Gewissen des Volkes und des Einzelnen in das Licht Gottes gestellt wird. Deshalb ist Prophetie einerseits traurig, weil sie das Herz des sündigen und undankbaren Volkes Gottes entlarvt. Auf der anderen Seite ist Prophetie liebreich und herrlich, weil sie das Herz Gottes offenbart, das in Liebe nach seinem Volk Ausschau hält (Lk 15,20). Sie zeigt, dass Gott ihr Wohlergehen sucht und dass Er sie schließlich segnet – nachdem die Sünde entdeckt, bekannt und aufgrund des Werkes seines Sohnes vergeben wurde. Die Segnungen werden als Folge der Reue dargestellt, aber ursprünglich sind sie erst möglich geworden, nachdem die Strafe für die Sünde vom Mittler getragen wurde.

Wie in der Einleitung des Buches erwähnt, werden Propheten besonders dann gesandt, wenn Gottes Volk im Verfall begriffen ist. Sie rufen zur Umkehr auf, während sie gleichzeitig das Gericht ankündigen, wenn das Volk in der Sünde verharrt. Für diejenigen, die auf die Stimme Gottes hören, haben die Propheten eine ermutigende Botschaft. Sie erinnern sie an die Gewissheit des Segens, der auf sie wartet. Diese Aussicht gibt dem treuen Überrest die Kraft, inmitten der abtrünnigen Masse in der Heiligkeit auszuharren.

Überschrift

Der Name „Jesaja“ mit der Bedeutung „die Rettung des HERRN“ weist schön auf das Kennzeichen seiner Prophetie hin. Sein Buch ist ein „Gesicht“, eine „Vision“, das heißt, er schreibt als echter „Seher“ über das, was er gesehen hat. Er hat seine Botschaft vom HERRN selbst erhalten. Er ist ein Prophet Gottes, das heißt ein Sprecher Gottes. Er verkündet nicht seine eigenen Gedanken, sondern gibt weiter, was er von Gott gehört und gesehen hat.

Jesaja wird zum Propheten berufen, als „Ussija“ noch König von Juda ist, das war um 740 v. Chr. Ussija wird nicht mehr lange König sein, denn das Jahr der Berufung Jesajas ist das Jahr seines Todes (Jes 6,1). Danach prophezeit er während der Regierungszeit der Könige „Jotham“, „Ahas“ und „Jehiskia“. Das bedeutet, dass der Bereich seines Dienstes das Zweistämmereich oder das Südreich ist. Wahrscheinlich hat er Hiskia überlebt, denn er beschreibt die Geschichte von Hiskia (2Chr 32,32).

Drei der vier genannten Könige werden als gute Könige angesehen. Nur Ahas ist ein sehr schlechter König. Doch auch unter den guten Königen ist der Zustand des Volkes schlecht. Das wird in diesem ersten Kapitel deutlich werden.

Es kann entmutigend sein zu erkennen, wie es wirklich um Gottes Volk in unseren Tagen steht. Äußerlich mag es gut aussehen, aber der Herr kennt das Herz (vgl. Jes 1,10-16). Deshalb brauchen wir den prophetischen Dienst, denn so kann Er den wahren Zustand des Herzens ans Licht bringen. Die ersten Kapitel dieses Buches halten uns einen Spiegel vor. Wenn wir aufmerksam und beobachtend in den Spiegel schauen, wird er uns dazu bringen, uns selbst im Licht des Wortes Gottes zu prüfen (vgl. Jak 1,22-24).

Die Schuld des Volkes festgestellt

Bevor Juda die Anklageschrift in der Rechtssache mit dem HERRN hört, werden zunächst Zeugen aufgerufen (Jes 1,2), nämlich „Himmel“ und „Erde“. Jesaja ruft die Schöpfungswerke Gottes auf, Zeugnis abzulegen in Bezug auf den Bund mit dem HERRN, den sie gebrochen haben Das hat auch Mose beim Schließen des Bundes getan (5Mo 32,1).

Jesajas Botschaft richtet sich nicht nur an Israel, sondern auch an die Nationen (Jes 49,6), ja, an die ganze Schöpfung. Schließlich wird auch der Herr Jesus eine neue Schöpfung herbeiführen. Dies geschieht auf eine Art und Weise, die völlig öffentlich ist und daher von jedem beurteilt werden kann. Jeder wird anerkennen, wie gerecht der HERR alles gemacht hat. Weder Freund noch Feind, nicht einmal der Teufel, wird den Finger auf eine Ungerechtigkeit legen können.

Jesaja lässt den HERRN selbst sprechen. Sofort stellt sich der HERR als Vater seines Volkes – nicht des einzelnen Israeliten! – vor und sagt, dass Er „Kinder großgezogen“ hat. Wir sehen das in der Geschichte während der Regierungszeit von David und Salomo, wo das Volk zahlenmäßig groß wurde, also ein stattliches Volk geworden ist. Er hat das Volk aber auch „auferzogen“. Das bedeutet, dass das Volk erwachsen geworden ist und eine Stellung über alle Völker erlangt hat.

Trotz aller Fürsorge, mit der Er sie als seine Kinder behandelt (5Mo 14,1a) und umgeben hat, muss Er ihnen sagen, dass sie von Ihm „abgefallen“ sind. Sie sind zu rebellischen Kindern geworden, die von Ihm abgefallen sind. Das Wort „abgefallen“ ist ein zentraler Begriff in diesem Buch bis hin zum letzten Vers (Jes 66,24).

Die Tatsache, dass das Wort „sie“ betont wird, unterstreicht die Ernsthaftigkeit ihres Abfalls. Gerade von denen, die vom HERRN so vorzüglich großgezogen und auferzogen wurden und zur Reife gekommen sind, ist ein solches Verhalten nicht zu erwarten. Der Vorwurf ist deshalb völlig gerechtfertigt.

Darin hält Israel uns einen Spiegel vor. Wie steht es mit uns, die wir das persönliche Recht haben, Kinder Gottes zu sein, weil wir an den Namen des Herrn Jesus geglaubt haben (Joh 1,12; 1Joh 3,1)? Kennen wir unseren Gott, den Vater, in unserem praktischen Glaubensleben und sind wir Ihm geweiht? Was Gott an Israel als Volk getan hat, das hat Er auch an uns, die wir zur Gemeinde des lebendigen Gottes gehören, persönlich und geistlich getan. Die Geschichte von Israels Undankbarkeit und ihr Abfall ist „geschrieben worden zu unserer Ermahnung“ (1Kor 10,11).

Nachdem die „unbelebte“ Natur – Himmel und Erde – angerufen ist, werden zwei eigenwillige Tiere mit den zwölf Stämmen Israels verglichen (Jes 1,3; vgl. Jer 8,7). „Ein Ochse“ und „ein Esel“ kennen jeweils ihren „Besitzer“ und „die Krippe ihres Herrn“; sie wissen, dass sie bei ihm bleiben müssen, um ihre Nahrung zu erhalten. Er kümmert sich um sie. Hat nicht auch Gott für sein Volk gesorgt?

Aber das Volk ist dümmer als diese Tiere (vgl. Ps 73,22). Als Volk sind sie seine Kinder – Gott spricht immer noch von „meinem Volk“ – aber sie kennen ihren Vater nicht mehr. „Keine Erkenntnis“ oder „nicht wissen“ hat die Bedeutung von „keine Beziehung zu Ihm haben“. Infolgedessen fehlt ihnen auch ein grundlegendes „Verständnis“ für das, was der HERR von ihnen verlangt, und für die Situation, in der sie sich befinden. Bei ihnen gibt es keinerlei Erwägung vor dem Angesicht Gottes im Hinblick auf ihr Handeln als sein Volk.

Diese Beschreibung zeigt, zusätzlich zu dem in Jes 1,2 erwähnten Abfall, die völlige Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem, was Gott zusteht. Das Volk, das sein Besitz ist und für das Er gesorgt hat, ignorieren seine Liebe völlig.

Der Herr Jesus hat als Schöpfer ein Anrecht auf jeden Menschen. Durch sein Werk am Kreuz hat Er alle Menschen – gläubige und ungläubige – erkauft (2Pet 2,1). Durch dasselbe Werk hat Er als Retter alle erlöst, die glauben (1Pet 1,18; 19). Von ihnen ist Er der Eigentümer. Allerdings haben viele von Gottes Volk heute nicht das Bedürfnis nach der Nahrung, die Er für sie in seiner „Krippe“, die sein Wort ist, für sie zubereitet hat.

Die Doppelbeziehung des Volkes zum HERRN einerseits als Besitzer und andererseits als Herr ist ein Beispiel für uns:
1. Wir sind der Besitz des Herrn Jesus, Er hat uns gekauft, wir gehören Ihm und sind in allem, was wir benötigen, von Ihm abhängig;
2. Er ist unser Herr, wir sollen Ihm gehorchen.

In Jes 1,4 spricht Gott anhand von sieben Kennzeichen ihres verdorbenen Zustandes das „Wehe“ über sie aus. Diese Aufzählung kann in zwei Teile unterteilt werden.

In Teil 1 geht es um ihren Zustand als Volk (1 und 2) und als Familie (3 und 4):
1. Volk: „die sündige Nation“, ein Volk, dem das Ziel Gottes abhandengekommen ist. Sünde bedeutet im Hebräischen: das Ziel verfehlen, nämlich die Herrlichkeit Gottes (Röm 3,23).
2. Volk: „Volk, belastet mit Ungerechtigkeit“, das heißt ein verkehrtes und verdrehtes Volk.
3. Nachkommen: „Nachkommen der Übeltäter“, sie tun nur Böses und nichts Gutes.
4. Söhnen: „bösen Söhnen“, sie säen Bösartigkeit um sich herum.

In Teil 2 wird ihr innerer Zustand ausgedrückt: in ihren Herzen (5), in ihren Worten (6) und in ihren Taten (7). Sie haben
5. Ihn in ihrem Herzen verlassen,
6. Ihn mit ihrem Mund verschmäht, d. h. verachtet oder gelästert, und
7. sich in ihrem Wandel rückwärts ausgerichtet, sich von Ihm abgewandt, indem sie sich von Ihm entfernten und Ihm nicht mehr folgten.

Jeder Teil der aufgeführten Anklage steht in scharfem Kontrast zu dem, was Gott für sein Volk vorgesehen hat und auch erwarten durfte (2Mo 19,6a; 5Mo 14,1; 2; 1Pet 2,9). Beeindruckend ist, dass Er hier „der Heilige Israels“ genannt wird, ein Titel, der für Jesaja charakteristisch ist und für den er eine Vorliebe hat (siehe Einleitung unter „Einige charakteristische Ausdrücke“). Es bedeutet, dass der HERR nicht nur der größte Gott ist, nein, Er ist der Erste und der Letzte, ja, Er ist der allein wahre und einzige Gott. Es bedeutet auch, dass sein Name durch die Wiederherstellung Israels geheiligt werden wird (Mt 6,9b; Hes 36,22; 23).

Geistlich gesehen sind die Glieder des Volkes Gottes, wie Mose sagt, „ein Geschlecht voll Verkehrtheit …, Kinder, in denen keine Treue ist“ (5Mo 32,20b). Für sie gilt, was der Herr Jesus später in seinen Tagen auf der Erde zu den Juden sagt: „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun“ (Joh 8,44a). Wir hören es auch in dem, was Er zu den Pharisäern und Sadduzäern sagt, wenn Er sie „Otternbrut“ nennt (Mt 3,7). Sie haben sich von Ihm abgewandt und Ihn verlassen, um den Götzen zu dienen.

Wegen ihrer Abweichung musste der HERR sie züchtigen. Er will sie dadurch zu sich selbst zurückbringen. Er fragt sie nun: „Warum solltet ihr [noch] weiter geschlagen werden?“ (Jes 1,5a). Er sagt gewissermaßen: „Ist es noch nicht genug gewesen? Hat es einen Sinn, euch noch mehr zu schlagen?“ (Jer 2,30a; Jer 5,3).

Der HERR hat sie überall geschlagen, an allen Orten, durch Plagen und feindliche Völker. Er hat sie so oft geschlagen, sodass es keine Stelle mehr gibt, wo Er sie noch schlagen könnte. Auf immer neue Weise hat Gott sie seine Zucht spüren lassen, aber alles war vergeblich. Neue Züchtigung scheint keinen Sinn zu machen, denn sie fahren fort, nur den Abfall zu mehren. Sie sind völlig unempfindlich und gleichgültig gegenüber jeglicher Art von Zucht geworden. Und das trotz der Strenge und Härte aller Züchtigungen. Der Prophet weist in den Jes 1,5b-7 darauf hin.

„Das ganze Haupt“, „das ganze Herz“ (Jes 1,5b), ja der ganze Körper „von der Fußsohle bis zum Haupt“ (Jes 1,6a), also äußerlich und innerlich, ist von Gott abgefallen und hat seine Züchtigung zu spüren bekommen. Haupt und Herz regieren den Körper. Mit „dem Haupt“ ist möglicherweise der König gemeint (2Chr 28,22) und mit „dem Herzen“ das gesamte gesellschaftliche Leben. Sie sind krank im Kopf und abgestumpft im Herzen. Wenn Kopf und Herz krank sind, ist der ganze Körper krank. Es ist „nichts Gesundes“ vorzufinden. Sie können nicht mehr gut mit dem Kopf denken und sie sind mutlos im Herzen, sie haben keine körperliche Kraft mehr. Dennoch nehmen sie keine Zuflucht zu Ihm. Wenn sie überhaupt noch etwas empfinden, dann greifen sie zu den Götzen (2Chr 28,22; 23).

Ihre nationale Existenz besteht aus offenen, schmerzhaften, eiternden „Wunden und Striemen und frischen Schlägen“. Aber sie bitten Gott nicht um Behandlung. Die Wunden werden „nicht ausgedrückt und nicht verbunden und nicht mit Öl erweicht“. Sie sind in einem so schlechten moralischen Zustand, dass ihre böse Verfassung sie überhaupt nicht stört und kein Bedürfnis nach Genesung vorhanden ist.

Nicht nur ihr Leben beweist ihre Untreue, sondern auch der Zustand des Landes bezeugt es, denn es „ist eine Wüste“ (Jes 1,7). Jesaja spricht von „eurem Land“. Der HERR hat ihnen dieses Land gegeben, damit sie darin wohnen und seine Früchte genießen können. Dass das Land eine Wüste ist, wird am Anfang und am Ende von Jes 1,7 gesagt. Es steht in direktem Zusammenhang mit dem Fluch, den Mose für den Fall der Untreue des Volkes voraussah (3Mo 26,33b; 5Mo 28,49-52). Der Prophet Jesaja verwendet die Worte Moses und wendet sie auf seine Zeit an. Die Verwüstungen sind die Folge des Angriffs der Assyrer (Jes 36,1).

Der Prophet spricht auch von „eure Städte“ und „eure Äcker“. Es ist ihnen alles gegeben, um in ihnen zu wohnen und von ihnen zu leben. Doch von den Städten ist nichts mehr übrig. Sie werden mit Feuer verbrannt, es gibt keinen Platz mehr zum Leben. Was die Äcker hergeben, wird vor ihren Augen von „Fremden“, d. h. dem Feind, der im Land ist, „verschlungen“. Sie haben das Land „umgekehrt“. Ihre Treulosigkeit hat alles auf den Kopf gestellt. Es gibt keinen Platz mehr für den HERRN, und deshalb werden sein Volk und die Früchte des Landes den Nationen überlassen. Das Land ist das Land des HERRN (3Mo 25,23), aber die Verwalter haben sich das Erbe widerrechtlich angeeignet (Mt 21,38).

Ein Überrest

Inmitten all der Untreue und Gottes Gericht darüber bezeugt der HERR seine Liebe zu Zion, indem Er von der Stadt als einer „Tochter“ spricht (Jes 1,8). Hier ist Zion die Tochter, eine junge Frau, die eigentlich die Braut Gottes ist. Zion ist der poetische Name für Jerusalem.

Gott verhindert, dass die Assyrer Jerusalem einnehmen. Inmitten des verwüsteten Landes steht nur noch Jerusalem. Doch von der einstigen Pracht der Stadt ist nicht mehr viel übrig. Sie gleicht „einer Hütte im Weinberg“ und „einer Nachthütte im Gurkenfeld“. Die Hütte ist für die Wächter des Weinbergs und die Nachthütte für die Wächter des Gurkenfeldes. Die Wächter sind die einzigen menschlichen Wesen in einer weitgehend menschenleeren Umgebung. Zion wird auch mit „einer belagerten Stadt“ verglichen. Eine Stadt, die belagert wird, hungert. Alle Kraft und Schönheit verschwindet.

Die wenigen Bewohner der in Jes 1,8 erwähnten Hütten werden durch den Ausdruck „einen kleinen Überrest“ (Jes 1,9) angedeutet. Dass es einen Überrest gibt, ist nur der Gnade Gottes zu verdanken. Er, „der HERR der Heerscharen“, hat dafür gesorgt, dass er „gelassen“ wurde. Wenn Er nicht eingegriffen und einen Überrest bewahrt hätte, wären sie „wie Sodom“ und „Gomorra“ geworden und buchstäblich untergegangen wie jene Städte. Indem Gott einen Überrest übrig lässt, verwirft Er sein Volk nicht völlig und nicht für immer. In der Tat erhält der kleine Überrest in diesem Buch den Platz des gesamten Volkes.

Prophetisch wird sich dies schließlich erfüllen, wenn das zukünftige Assyrien, das auch als König des Nordens bezeichnet wird, Israel vernichten wird. Selbst dann wird Gott einen Überrest, „ein Drittel“ (Sach 13,8c), für sich behalten.

Paulus zitiert Jes 1,9 in seinem Brief an die Römer, um darauf hinzuweisen, dass die Errettung der Geretteten allein Gott zu verdanken ist (Röm 9,29). Das gilt auch geistlich für uns als Gemeinde Christi. Wegen unserer Untreue wäre der Herr nicht in der Lage, uns als seine Zeugen auf der Erde zu erhalten. Dass wir noch da sind, obwohl wir nur wenige sind, ist nur seiner Gnade zu verdanken (vgl. Klgl 3,22-24). Die Erkenntnis dessen sollte uns zu größerer Hingabe führen.

Der Überrest erkennt diese Gnade an, weil er erkennt, dass er eine plötzliche und totale Zerstörung verdient hat. Das unausweichliche Gericht, das über die Masse des Volkes kommt, wird nach seiner Ausführung an das erinnern, was mit Sodom und Gomorra geschah (5Mo 29,22; 23). Dies werden wir in der Endzeit sehen. Dann wird die gottlose Masse des Volkes durch das Feuer des Gerichts umkommen, während der Überrest als Knechte des HERRN unter Gottes gerechtem Knecht befreit und gesegnet werden wird.

Es ist wichtig, im Gedächtnis zu behalten, dass mit Zion das irdische Jerusalem gemeint ist und nicht die Gemeinde. Nirgendwo in den Prophezeiungen des Alten Testaments ist von der Gemeinde die Rede. In der Tat ist die Gemeinde in der Zeit des Alten Testaments ein Geheimnis (Eph 3,5). In den Prophezeiungen geht es um das Reich Gottes auf der Erde. Das wollte Gott in Israel Gestalt annehmen lassen. Wegen ihrer Untreue entsprachen sie Gottes Gedanken nicht und deshalb wurden sie für eine Zeit verworfen. Gottes ursprüngliche Absicht wird aber im Friedensreich unter der Herrschaft des Herrn Jesus in vollkommener Weise sichtbar werden.

Für die Gemeinde, die im Himmel ihr zu Hause hat, besteht das Reich Gottes derzeit nicht äußerlich, sondern geistlich (Röm 14,17). Alle, die sich als Christen bekennen, können aus den Prophezeiungen viele geistliche Lektionen für ihr praktisches Glaubensleben lernen (1Kor 10,6; 11). Wir sehen dies, wenn wir die Ähnlichkeit zwischen Israel als einem versagenden Zeugnis Gottes auf der Erde damals und der Christenheit als einem versagenden Zeugnis Gottes in der jetzigen Zeit sehen (Röm 11,16-24).

Scheinheilige Schlachtopfer

Jesaja gibt die Stimme des Überrestes wieder, wenn er in Jes 1,9 anerkennt, dass es Gottes Gnade zu verdanken ist, dass sie nicht wie Sodom und Gomorra geworden sind. Das gilt nicht für die gottlose Masse, an die er in den Jes 1,10-20 das Wort richtet. Geistlich gesehen ähnelt der Zustand Jerusalems und Judas dem von Sodom und Gomorra (Hes 16,49). Jerusalem und Juda weisen Eigenschaften wie Stolz, Übermut und sorglose Ruhe auf. In der Zukunft wird es den Juden in ihrem Tempel, den sie im Unglauben in Jerusalem wiederaufgebaut haben, geistlich so ergehen (Off 11,8).

Jesaja spricht an erster Stelle die Führer Jerusalems an (Jes 1,10). Er spricht sie wenig schmeichelhaft als „Vorsteher von Sodom“ an. Er wendet sich auch an das Volk Gottes, das er ebenso wenig schmeichelhaft „Volk von Gomorra“ nennt. Das bedeutet, dass ihr geistlicher Zustand unwiderruflich zu Gottes Gericht führen wird. Deshalb fordert er die Führer auf, „das Wort des HERRN“ zu hören, und ermahnt das Volk, „auf das Gesetz unseres Gottes“ zu horchen.

Obendrein, und das ist wirklich schockierend, bedecken sie ihre Verdorbenheit mit einem frommen Gewand. Es ist die Religion Kains. Sie bringen Gott eine „Menge … Schlachtopfer“ (Jes 1,11), aber Er lehnt sie ab. Sie sind wertlos für Ihn, weil sie mit einem heuchlerischen und kalten Herzen dargebracht werden (Jes 29,13; Hos 6,6; Amos 5,21-24; Mich 6,6-8).

Sie mögen eine „Menge Schlachtopfer“ bringen, aber Er verabscheut sie. Er hat ihre „Brandopfer von Widdern“ satt. Der Widder ist das Tier des Weiheopfers. Indem sie einen Widder bringen, geben sie vor, dass sie Ihm ihr Leben weihen wollen. „Das Fett“ und „das Blut“ von allen möglichen Tieren gefällt Ihm nicht. Sie geben vor, sein Recht darauf anzuerkennen, aber in der Praxis tun sie, was ihnen gefällt. Was für eine Vielfalt von Opfern bringen sie, und sie tun es genau so, wie es vorgeschrieben ist, doch Er hat kein Gefallen daran.

Sie kommen mit ernsten Gesichtern vor sein Angesicht und zertreten seine Vorhöfe (Jes 1,12). Seht, wie religiös sie sind! Aber wer hat das von ihnen verlangt? Gott sicher nicht. Es ist besser für sie, zu Hause zu bleiben, als heuchlerisch zu kommen, denn wenn sie das tun, sind die Opfergaben „wertlos“ (Jes 1,13). Sie haben überhaupt keinen Nutzen und bewirken nichts. Das „Räucherwerk“, das sie bringen, ist Ihm „ein Gräuel“. Der HERR zerschlägt ihren ganzen Dienst; Er lässt nichts davon übrig. Alles, womit sie meinen, Ihn zu ehren, ist nichts als geistlicher Egoismus. Es dient nur dazu, ihre religiösen Gefühle zu befriedigen. Es ist nichts für den HERRN dabei.

Auch die Festtage und die damit verbundenen Versammlungen sind Ihm ein Gräuel. „Ich kann sie nicht ertragen“ muss Er dazu sagen, denn Er ist der Gott des Rechts, und was sie tun, ist „Frevel“. Selbst wenn sie eine „Festversammlung“ berufen – das heißt die heiligen Versammlungen während der sieben jährlichen Festtage, die in 3. Mose 23 beschrieben werden –, ist das für Ihn eine verwerfliche Beschäftigung. Es sind Festtage, um sich selbst Gutes zu tun, während für den HERRN kein Platz ist.

Es sind also nicht mehr „Feste des HERRN“ (3Mo 23,2), sondern ihre eigenen Feste. Er nennt sie deshalb auch „eure Neumonde und eure Festzeiten“ (Jes 1,14; vgl. Joh 5,1; Joh 6,4; Joh 7,2). Er hasst sie von ganzer Seele. Sie sind Ihm eine Last und Er ist müde, sie zu tragen (vgl. Jes 7,13). Wir würden sagen: Er ist ihrer überdrüssig.

Die Sprache ist äußerst kraftvoll und eindringlich. Gott drückt in einer fast emotionalen Weise seine Verurteilung ihres verwerflichen Dienstes aus. Er will sein Volk von der Abscheu überzeugen, die Er empfindet. Ohne es zu wissen, sind viele blind für das, was vor dem HERRN angemessen ist (vgl. Off 3,17; 18) und haben sich sogar gegen diese Vorwürfe gewehrt. Sie sind sehr zufrieden mit sich und ihrem Dienst.

Wer sich Gott heuchlerisch im Gebet nähert, den sieht und hört Er nicht (Jes 1,15). Er hört nur, wenn die Praxis – von der die Hände sprechen – rein ist (vgl. 1Tim 2,8; Ps 24,4; 5; Ps 66,18). Sie stehen im Tempel und beten mit ausgestreckten Händen, aber Gott hört nicht auf sie, denn ihre Hände sind mit Blut befleckt. Sie begehen im Verborgenen Ungerechtigkeiten, und so kommen sie vor Ihn. Schönes Beten in der Öffentlichkeit, während die Praxis im Widerspruch dazu steht, verabscheut Gott zutiefst.

Er sagt von ihrem Gottesdienst, dass sie sich Ihm mit ihrem Mund nähern und Ihn mit ihren Lippen ehren, aber ihr Herz weit von Ihm entfernt ist (Jes 29,13). Gott verabscheut einen rein äußerlichen Gottesdienst, damals, heute und in der Zukunft. Das Gewissen des Christen kann auch so verhärtet sein, dass der Anschein eines christlichen Verhaltens gewahrt bleibt (2Tim 3,5), während er in der Sünde lebt.

Aufruf zur Umkehr

Gott ruft das Volk auf, sich zu waschen und sich zu reinigen (Jes 1,16; vgl. Ps 51,9). In diesem Aufruf hören wir die Aufforderung von Johannes dem Täufer an die religiösen Führer, die zu seiner Taufe kommen: „Bringt nun der Buße würdige Frucht“ (Mt 3,8). Alle Opfer, die sie heuchlerisch darbringen, reinigen ihre sündigen Taten vor Gott nicht.

Die Aufforderung zum Waschen setzt voraus, dass sie schmutzig sind. Das Waschen geschieht mit Wasser. Geistlich gesehen bedeutet dies, dass ein Mensch durch das Lesen oder Hören des Wortes Gottes, das mit Wasser verglichen wird (Joh 15,3; Eph 5,26), einsieht, dass er ein Sünder ist und dies auch als gerecht anerkennt. Das Bekenntnis der Sünden wird von Gott mit der Reinigung von den Sünden beantwortet. Diese Reinigung geschieht auf der Grundlage des Blutes Christi (1Joh 1,7b; 9).

Wenn sie gewaschen und gereinigt sind, werden sie auch der Aufforderung nachkommen, „die Schlechtigkeit“ ihrer „Handlungen aus den Augen“ Gottes zu schaffen (Jes 1,16a). Dann wird auch die Gesinnung gefunden, mit bösen Handlungen aufzuhören (Jes 1,16b), wodurch der Weg frei wird, „Gutes zu tun“ (Jes 1,17; Jak 4,8b; Röm 12,9). Ein Mensch kann nicht lernen, Gutes zu tun, wenn er nicht vorher aufhört, Böses zu tun.

Wer Gutes tut, wird nach Gerechtigkeit streben, was sich in der Fürsorge für die Schwachen und Verletzlichen in der Gesellschaft ausdrückt. Nach Recht zu trachten bedeutet also, sagt Jesaja, „den Bedrückten“ zu leiten, „den Waisen“ Recht zu verschaffen und „die Rechtssache der Witwe“ zu führen. Gerade die Schwachen und Verletzlichen aber werden von ihnen zu ihrem eigenen Vorteil benachteiligt (Jes 1,23). Durch eine völlige Umkehrung dieses Verhaltens würden sie sich als sein Volk erweisen.

Um dies zu erreichen, ruft der HERR sie auf, mit Ihm zu rechten (Jes 1,18). Dann wird Er ihnen die Gerechtigkeit seiner Taten zeigen. Und wenn sie seine gerechten Taten anerkennen, wird Er sie von ihren Sünden reinigen und ihnen seine Vergebung gewähren. Er kann dies aufgrund des Werkes tun, das sein Sohn, der vollkommene Knecht des HERRN, als Schuldopfer am Kreuz vollbringen wird (Jes 53,7-12; Röm 3,25). Gott bietet auf der Grundlage der Gerechtigkeit in einzigartiger Weise volle Vergebung und Reinigung an, egal wie schlimm und wie oft jemand gesündigt haben mag.

Gott erinnert sie an ihre Sünden, die „wie Scharlach“ und „wie Karmesin“ sind. Scharlach und Karmesin sind beide blutrote Farben. Es ist die Farbe, die wie ihre Blutschuld ist. Ihre Hände sind rot von dem Blut, das sie vergossen haben und für das es kein Mittel gibt, mit dem sie es abwaschen könnten (Jer 2,22). Wenn sie jedoch ihre Sünden bekennen und um Gottes Gnade bitten, werden sie weiß durch die Vergebung, die sie von Gott nach ihrem Bekenntnis erhalten. Das Weiße wird mit Schnee und Wolle verglichen. Es verweist auf die unverfälschte Reinheit von frisch gefallenem Schnee und die wohltuende Wärme der Wolle, die vor der Kälte der Sünde und der Welt schützt.

Prophetisch gesehen ist das, was wir hier lesen, ein Aufruf an das Volk, seine beiden Sünden zu erkennen und zu bekennen. Diese beiden Sünden sind erstens die Ablehnung Christi und zweitens der Götzendienst, der in der Annahme des Antichristen gipfelt. Dieser prophetische Aspekt wird besonders im zweiten Teil von Jesaja besprochen.

Der HERR sagt ihnen, dass sie auf zwei Arten reagieren können. Er sagt ihnen aber zudem, welche Folgen jede Reaktion hat. Die erste Reaktion kann sein, dass sie willig sind, bereit, auf Ihn zu hören (Jes 1,19). Als Ergebnis wird es Segen geben, das heißt, sie werden „das Gute des Landes essen“. Die zweite mögliche Reaktion ist, dass sie widerspenstig und ungehorsam sind. In diesem Fall werden sie vom Schwert verzehrt werden (Jes 1,20). Sie können sicher sein, dass entweder der Segen oder der Fluch kommen wird, denn „der Mund des HERRN hat geredet“. Seine Aussprüche sind nie leere Aussagen, sondern voller wirksamer Kraft. Was Er sagt, das geschieht vollständig (Jes 34,16).

In den Jes 1,19; 20 hören wir ein Wortspiel. Wenn sie willig sind und gehorchen, sollen sie das Gute des Landes essen; wenn sie sich aber weigern und ungehorsam sind, sollen sie vom Schwert gefressen werden. Im einen Fall dürfen sie die Nahrung zu sich nehmen, die Gott ihnen gibt; im anderen Fall dienen sie selbst als Nahrung für das Schwert ihrer Feinde.

Prophetisch gesehen gibt es hier zwei Gruppen von Menschen, die wir in der Endzeit finden. Wir erkennen in dem gehorsamen, treuen Überrest eine Gruppe, die „isst“. Die andere Gruppe, die „gefressen“ wird, erkennen wir in der großen, ungehorsamen Masse Israels. Als Christus kam, nahm das Volk als Ganzes Ihn nicht an (Joh 1,11), während der Überrest Ihn annahm (Joh 1,12).

Wenn der Antichrist kommt, wird das Volk ihn annehmen (Joh 5,43), während der Überrest ihn ablehnen wird. Deshalb wird der Überrest schließlich Segen empfangen und essen, während das ablehnende Volk vom Schwert gefressen wird. Das Schwert, das aus dem Mund des HERRN kommt (vgl. Off 19,15), ist Assyrien, das auch die Rute des Zornes Gottes genannt wird (Jes 10,5).

Für uns führt das Hören auf den Herrn zu geistlichem Segen. „Das Gute des Landes essen“ (Jes 1,19) bedeutet, dass wir uns ernähren mit „allen geistlichen Segnungen“ (Eph 1,3), die durch das Werk des Herrn Jesus unser Teil geworden sind. Wenn wir ungehorsam sind, wird unser geistliches Leben verdorren und unser Zeugnis verschwinden.

Die Ursache des Gerichts

Diese Verse sind ein Klagelied Jesajas über die Untreue Jerusalems. Der Ausruf „wie ist“ (Jes 1,21) ist ein Ausdruck des Kummers über die entstandene Situation. Der Prophet hat dem Volk die Rechte Gottes vor Augen geführt und sie aufgefordert, mit Gott zu rechten. Er hat ihnen auch die Bereitschaft Gottes zur Vergebung gezeigt. Aber „wie ist“ die einst „treue Stadt“ durch ihre Liebe zu den Götzen zu einer Frau geworden, die „eine Hure“ genannt werden muss (5Mo 31,16). Prophetisch deutet dies darauf hin, dass das irdische Jerusalem durch die Annahme des Antichristen geistlich zu einer Hure geworden ist.

Sie ist so schlecht und verdorben, dass es keine Hoffnung auf Wiederherstellung gibt. Sie, die „voll Recht“ gewesen ist, in der „Gerechtigkeit weilte“, ist eine Stadt der „Mörder“ geworden. Tag und Nacht war die Stadt eine Wohltat für ihre Bewohner wegen der Gerechtigkeit, die in ihr geherrscht hat. Sie war ein sicherer Ort zum Leben. Aber die Gerechtigkeit hat sich in Gewalt verwandelt. Die Richter sind zu ungerechten Richtern geworden, zu Menschen, die das Gesetz verdrehen.

Infolgedessen sind sie selbst zu Mördern geworden und lassen auch Mörder ungestraft davonkommen, damit sie in der Stadt einen Wohnplatz haben. Infolgedessen hat die Stadt alles verloren, was sie angenehm und sicher machte. Der härteste Fall eines ungerechten Urteils und eines Mordes ist die Verurteilung des Herrn Jesus und die vollzogene Todesstrafe durch diese Stadt mit ihren Mördern.

Eine gottlose Vermischung hat stattgefunden (Jes 1,22). Was als Silber wertvoll sein sollte, womit die Leiter des Volkes Gottes gemeint sind, ist zu wertlosen Schlacken geworden. Die Führer sind durch ihre Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit zu verdorbenen, wertlosen Menschen geworden. Die Führer, die den Bewohnern eine Freude sein sollten wie der Wein, sind zu einem Getränk geworden, das nicht getrunken werden kann und ausgespuckt wird.

Als Anwendung können wir sagen, dass das, was für Gott wertvoll ist, das Silber, und das, was Ihm Freude bereitet, der Wein, einem gerechten Urteil nicht standhält. Schlacken, die wertlos sind, und Wasser, das den Wein verdünnt, zum Beispiel menschliche Traditionen, entfernen oder verdunkeln Gottes Recht.

Die Führer sind zu Tyrannen geworden. Sie haben sich gegen den HERRN erhoben und Ihn zur Seite geschoben (Jes 1,23). Sie ziehen die Gesellschaft von Dieben der Gesellschaft des HERRN vor. Sie begehen ihren Diebstahl, indem sie sich die sozial Schwachen herauspicken. Sie handeln nach dem Prinzip „quid pro quo“ (eine gute Tat verlangt eine Gegenleistung). Sie verdrehen das Recht, erwarten aber von denen, zu deren Gunsten sie das Gesetz verdrehen, eine Gegenleistung. Für Bestechungsgelder verdrehen sie das Recht und benachteiligen dadurch die armen und wehrlosen Waisen und Witwen noch mehr.

Das Gericht dient der Reinigung

Jesaja stellt den Übeltätern „den Herrn, den HERRN der Heerscharen, den Mächtigen Israels“ gegenüber (Jes 1,24). Es ist, als ob der HERR sich in seiner Empörung über die Ungerechtigkeit der Führer und des Volkes in der ganzen Macht seines Wesens erhebt.

Die Unterscheidung zwischen den Namen, die mit „Herr“ und „HERR“ übersetzt werden, ist wichtig und sollte im gesamten Alten Testament beachtet werden. Auch beim weiteren Studium des Buches Jesaja ist es notwendig, auf diese Unterscheidung zu achten. Jedes Mal, wenn der Name „Herr“, in Kleinbuchstaben, verwendet wird, ist es die Übersetzung des hebräischen Wortes Adonai. Mit diesem Namen wird Gott als der Befehlshaber, der Herr, der souveräne Autorität hat, bezeichnet.

Wenn da „HERR“ steht, mit Großbuchstaben, dann ist das die Übersetzung des hebräischen Wortes Jahwe. Das ist der Name Gottes als der Gott des Bundes, der Name, der seine Beziehung zur Schöpfung und zum Menschen und besonders zu seinem irdischen Volk anzeigt. Der Name „HERR“ wird zum ersten Mal in 1. Mose 2 erwähnt, zuerst im Zusammenhang mit der Schöpfung und dann im Zusammenhang mit dem Menschen (1Mo 2,4-22). Im Zusammenhang mit Israel gibt Er sich ihnen mit diesem Namen zu erkennen, als Er sie aus Ägypten befreit (2Mo 6,1-8). Dieser Name weist dann auf die besondere Beziehung hin, die Er mit diesem Volk eingeht.

„Der Mächtige Israels“, ein Titel, den Jesaja nur hier verwendet, kann die Untreue seines Volkes nicht ungestraft lassen. Er ist mächtig, mit denen, die Er „meine Widersacher“ nennt, so umzugehen, dass seiner Gerechtigkeit genüge getan wird. Erleichterung ist nötig bei Schmerzen. Er hat großen Schmerz und Kummer wegen ihres Abfalls. Seine „Genugtuung“ [oder: sein „Trost“] (Jes 1,24) liegt in dem Gericht über ihren Abfall, weil dadurch dieser Abfall entfernt wird.

Er muss Rache an seinen Widersachern und Feinden üben. Aber aufgepasst. Die Widersacher und die Feinde sind hier nicht die Assyrer, wie das Volk sie gerne sieht, sondern Gott spricht hier von ihnen, seinem Volk! Mit „meine Widersacher“ und „meine Feinde“ meint Er sie. Sie, die rebellischen Juden, sind Widersacher und Feinde seines Gesetzes und seiner Regierung.

Dass Er sich – wörtlich: seine Hand – gegen sein Volk wendet, ist dazu gedacht, sie von ihren Ungerechtigkeiten zu reinigen, sodass sie reines Silber werden (Jes 1,25). Die gottlose Masse sind zu Schlacken und Blei geworden (vgl. Jes 1,22). Die Schlacken sind wertlos, und das Blei sieht aus wie Edelmetall, ist aber unecht. Er wird beide Elemente durch das Gericht des Feuers entfernen. Was übrig bleibt, ist ein gottesfürchtiger Überrest, der seinem Herzen wohlgefällig ist (Sach 13,9a; Mal 3,2).

Wiederherstellung für Jerusalem

Nach der Vollstreckung des Gerichts werden vom HERRN gerechte „Richter“ eingesetzt „wie früher“, d. h. wie zur Zeit Davids und Salomos (Jes 1,26). Bei den „Ratgebern wie am Anfang“ können wir an Mose und Josua denken. Das wird zu einer völlig anderen Situation führen als die, die wir jetzt mit ungerechten Führern haben, die den Gottesdienst leiten und das Leben des Volkes kontrollieren. Infolgedessen kann Jerusalem wieder „Stadt der Gerechtigkeit, treue Stadt“ genannt werden (vgl. Jes 1,21; Sach 8,3). Wir können auch sagen, dass Jerusalem wieder eine treue oder vertrauenswürdige Stadt geworden ist – „Glaube“ und „Treue“ sind im Hebräischen das gleiche Wort.

Die herrlichen Eigenschaften von Jes 1,26 werden das Ergebnis der Rettung Zions durch Gott sein, einer Rettung, die auf seinen Gerichten beruht, die Er in Gerechtigkeit ausführt (Jes 1,27). Gottes gerechte Gnade führt zur Gerechtigkeit und Standhaftigkeit im Leben derer, die gerechtfertigt werden. Die Grundlage der Errettung ist das Werk Christi, der am Kreuz das gerechte Urteil Gottes über die Sünden aller, die Buße tun, empfangen hat.

Gericht auf der Grundlage des Rechts

Im Gegensatz zu denen, die Buße tun und in das Friedensreich eingehen und dessen Segen genießen werden (Jes 1,26; 27), stehen diejenigen, die dem Antichristen folgen werden. Sie sind „Übertreter“ der Gebote Gottes (Jes 1,28). Damit ist die abgefallene Masse des Volkes Gottes gemeint. „Sünder“ bezieht sich auf die gesetzlosen Heiden, Menschen, die das Ziel Gottes nicht erfüllen – das Wort „Sünde“ bedeutet wörtlich „das Ziel verfehlen“. „Zerschmetterung“ wird sie treffen, denn sie haben alle „den HERRN verlassen“ und „werden untergehen“.

Die Mächtigen der Erde, auf die sie vertraut haben, dargestellt in „den Terebinthen“, werden sie enttäuschen (Jes 1,29), ebenso wie die Herrlichkeit der Welt, dargestellt in „den Gärten“. Sie haben geglaubt, durch ihre Verbindung mit „den Terebinthen“ und „den Gärten“ selbst eine „Terebinthe“ und ein „Garten“ zu werden, aber darüber werden sie „beschämt“ sein (Jes 1,30). Sie werden mit ihnen zusammen ein Ende finden.

Jes 1,31 weist auf das Endgericht am Ende des Buches hin (Jes 66,24) und unterstreicht den Gedanken, dass dieses erste Kapitel die Einleitung zum ganzen Buch ist. In „dem Starken“ erkennen wir das Tier aus dem Meer, den Herrscher über die Europäische Union, das wiederhergestellte Weströmische Reich (Off 13,1-10). In „sein Tun“, d. h. in dem, der es wirkt, erkennen wir das Tier aus der Erde, den Antichristen (Off 13,11-18).

„Sie werden beide [das Tier aus dem Meer und das Tier aus der Erde] miteinander verbrennen“, sie werden beide lebendig in die Hölle, den Feuersee, geworfen werden (Off 19,20). Das Feuer des Gerichts kommt hier nicht von außen, sondern von innen. So wie „Werg“, [das sind Flachsabfälle zum Feuermachen], das Feuer entfacht, Funken sprühen und die Flachsabfälle von innen heraus in Brand setzt, so trägt die Sünde das Gericht in sich und ruft das Gericht über sie herbei. Ihr Selbstvertrauen ist ihr Verhängnis.

Zusammenfassung Jesaja 1

Wir haben in diesem ersten Kapitel gesehen, dass es die Einleitung für das ganze Buch ist, weil es die Prinzipien des Handelns Gottes gegenüber dem Volk Israel darlegt. Es beginnt mit der Anklage ihrer Sünden und einem Aufruf zur Umkehr. Darauf folgt seine Verheißung, diejenigen zu segnen, die gehorchen, den gläubigen Überrest, und seine Drohung, diejenigen zu richten, die unwillig sind, die gottlose Masse des Volkes.

Nachdem das Gericht ausgeübt worden ist und die Reinigung stattgefunden hat, wird Gott im Friedensreich durch seinen Messias Segen für Israel geben und durch Israel wird dieser Segen zu den Nationen kommen. Wir werden das in den folgenden Kapiteln sehen.

© 2023 Autor G. de Koning

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